Hauptstraße

Mittwoch, 10.1.1962 20:30  ! Köhlersaal
20:30 Hauptstraße

Programmheft WS 1961/1962:

Juan A. Bardem, 1955 in Cannes ausgezeichnet, 1956 in Spanien verhaftet und wieder freigelassen, im gleichen Jahr Gewinner des Filmkritikerpreises der Biennale, 1957 mit weiteren Preisen in England und Belgien bedacht, ist der jüngste der „drei großen B” des spanischen Films — der böse Bunuel, der brillante Berlanga und der bittere Bardem. Als sein bester Film gilt „Hauptstraße".
Zentrales Thema ist die Langeweile, lastend über einer spanischen Kleinstadt, nistend in trüben Gassen und trägen Herzen, vergiftend und schließlich mündend in grausame Aktion: das Drama der Leere.

So wenig langweilig ist Langeweile im Film wohl noch nie demonstriert worden, nie so beklemmend und bedrängend Die kleine Stadt ist erstarrt im Käfig der Konvention; Geschwätz und Gerüchte geistern über die Hauptstraße, den Corso, wo sich alles trifft, begrüßt und bedauert: und die „Vitelloni" (von diesem Film hat Bardem viel gelernt), die Flaneure der Spießerwelt, sich wenig amüsierend in den ewig gleichen Lokalen und sich betäubend durch lärmendes Großtun, inszenieren einen makabren Spaß: Einer von ihnen soll der alternden Isabella, die hoffnungslos auf Mann und Ehe wartet, Liebe und Verlobung vorspiegeln. Die Arme aber blüht auf unter der Lüge, liebt und hofft und zweifelt nicht, und der Lügner erkennt plötzlich, was er tat.

...ein großer und kühner Wurf: beinahe ein Meisterwerk. Nicht nur beinahe, sondern schlechthin meisterhaft sind einige unvergeßliche Stellen: das Kinokarten-Kapitel mit den harten Kontrast-Schnitten, die rhythmischen Großaufnahmen der umdunkelten Prozession, die große Enthüllungsszene im leeren Ballsaal, während nervenzerrend das Klavier gestimmt wird, die stürzenden Bilder am Bauschacht mit dem Echo aus der Tiefe, dem Ruf der Unterwelt, schließlich die irre Sequenz am Fahrkartenschalter — das sind vier genialische Bravourstücke eines großen, bildbesessenen Regisseurs.

Nur einem großen Regisseur konnte auch jene Folge „negativer Liebesszenen" gelingen, in denen der Lügner heuchelt, anfangs fast angeekelt und später mitleidig, während die Belogene reines Glück empfindet: daß dergleichen zwar peinigend, doch nicht peinlich, nicht widerwärtig wirkt, ist ebenso staunenswert wie die strikte Vermeidung jeglicher Sentimentalität.

Der bittere Bardem, der neue Mann des neuen spanischen Realismus, hat hier unzweifelhaft eine der quälendsten Filmgeschichten dieser Jahre erzählt. Aber es ist auch, dank Betsy Blair, dank Bardems Bildkonzentration und dank der klischeesprengenden Kraft dieses keineswegs schlackenfreien, doch zu nüchterner Faszination verdichteten Films, eine der bewegendsten Leinwandgeschichten ihrer Art: die große, graue Legende der Lieblosigkeit.

(Gunter Groll)