Cesare Pavese hat die Orte der Kindheit als heilige Orte beschrieben, weil sie für den jeweiligen Menschen eine gewisse Einmaligkeit darstellen. Der Erwachsene verbindet diesem Ort mit einem gewissen Mythos, da er hier ein Stück Welt ganz aus eigener Phantasie erobert hat, ohne die Beeinflussung einer von außen kommenden Erfahrungswelt: eine Vergangenheit ohne Vergangenheit, ein Aufbruch in die Zukunft ohne die Bürde einer Schuld.
Deutschen Kindern nach dem Krieg war dieser Aufbruch versagt; und somit, streng genommen, jede Hoffnung. Sie sind, das wird ihnen schon als Halbwüchsige klar, infiziert von der Barberei ihrer Väter. Die Geschichte lastet auf ihnen und befleckt im Nachhinein die Erinnerung an die Kindheit. So haben sie es schwer mit ihrer Indentität. Ihr Leben vollzieht sich in historischer Wurzellosigkeit.
Kein deutscher Filmemacher ist so rigoros und intensiv auf diese unselige Erbschaft der Kriegskinder eingegangen wie WIM WENDERS (geb. 1945).
Im Zentrum der Wender'schen Figurenwelt herrscht deshalb eine gewaltige Leere, ein Loch aus sanftmütiger Passivität, das diese Figuren vergeblich mit Scheinaktivitäten zu füllen versuchen. Alles Leben ist der Versuch, seiner Sehnsucht ohne Heimat Herr zu werden. So die Suche des ausgesetzten Kindes in ALICE IN DEN STÄDTEN (1973) und die Ziellosigkeit ihres mehr oder weniger freiwilligen Begleiters Philip. So sind in IM LAUF DER ZEIT (1975, im FilmkreisProgramm SS 1980 gelaufen) Bruno und Robert mit dem Möbelwagen, der ihnen als Gefährt und Behausung dient auf den endlosen Straßen im Deutschland ohne Heimat unterwegs. In DER AMERIKANISCHE FREUND (1977) entsteht durch die Beziehungslosigkeit, die Leere der Umwelt mit ihren maulfaulen, aber doch um Kontakt bettelnden Figuren bedingt, in der Nähe des Flughafens mit seinem Fluglärm eine Sehnsucht nach der Ferne, ohne irgend eine Vorstellung über einen Bezugsort, die HEIMAT zu besitzen.
So handelt es sich bei der Reise in ALICE IN DEN STÄDTEN um die Suche nach einem Ziel, von dem man gar nicht weiß, ob es überhaupt existiert. Da wird Realität eingefangen und gleichzeitig in Frage gestellt. Es entsteht eine neue Wirklichkeit, nämlich die des Films. Wenders hat diese Wirkung mit ganz einfachen Mitteln erreicht: er erzählt seine Geschichte chronologisch, in schwarzweißen Bildern mit faszinierender Präzision.
aus: P.Buchka:WENDERS
Reclams Filmfiührer