Fast alle Künstler - ob Maler, Schriftsteller oder Filmregisseure - haben früher oder später in ihren Werken Erinnerungen an die eigene Kindheit, an die (unbeschwerte?) Zeit ihrer Jugend verarbeitet.
So sind auch für das Kino eine Reihe sehr persönlicher und eindrucksvoller Filme entstanden, die zum Teil Zeitgeschichte aus der Sicht von großen, runden und noch beeindruckbaren Kinderaugen zeigen; so z.B. “Hope and Glory”, John Boormans Erinnerungen an seine Kindheit in England während des II. Weltkriegs, “Auf Wiedersehen Kinder”, Louis Malles Meisterwerk über seine Zeit in einem Internat in Frankreich 1944, “Radio Days”, Woody Allens Rückblick auf seine Kindheit und die goldene Zeit des Dampfradios.
Aber auch, wenn es um Themen geht, die nicht ihren eigenen Erfahrungen entsprechen, benutzen viele Regisseure die Perspektive eines Kindes, um ihren Zuschauern ihr Thema nahezubringen. Kinder sind - im wirklichen Leben wie im Film - oft viel unvoreingenommener als die Erwachsenen, und man kann sie als Filmfiguren langsam an den Sachverhalt heranführen, den man auch den Zuschauern zeigen will.
So sind Filme, die ein Thema aus der Sicht von Kindern behandeln, oft um Klassen besser als Filme zum selben Thema, in denen Erwachsene die Hauptfiguren sind. Vergleicht man etwa Richard Attonboroughs “Schrei nach Freiheit” mit Chris Menges “Zwei Welten”, zwei Südafrika-Filme, die nur kurz nacheinander in die Kinos kamen, so schneidet letzterer eindeutig besser ab. Attonboroughs Film ist eine Collage aus Massenszenen, Action, Familiendrama und demokratischer Botschaft, in dem eines auf die Kosten des anderen ging, während Menges sich auf die Geschichte eines kleinen Mädchens konzentriert, dessen Eltern für den ANC tätig sind, und das erst allmählich die wahren Zustände in Südafrika entdeckt, wobei sich aus einer zunächst reinen Familiengeschichte einer der beeindruckensten Filme über Apartheid und Menschenrechte überhaupt entwickelt.
Die schönsten Filme über die Kindheit unterwerfen nirgendwo die Gefühle und Gedanken der Kinder den Auffassungen der Erwachsenen, sondern zeigen so behutsam wie liebevoll Momente ihrer Alltagsnot, die sich mal zum paradiesischen, mal zum verzweifelten Gefühl verdichten.
So nah die Kamera den Kindern dabei kommt, sie läßt ihnen doch genug Distanz, damit sie ihre besondere Eigenart behalten können: ob sie nun die Kindheit als eine wunderschöne Zeit (wie z.B. in “Cinema Paradiso”) oder als absoluten Alptraum (z.B. “Schrei in der Stille”) darstellen.
Filme aus der Perspektive von Kindern gibt es zu fast jedem Thema, sei es Behinderung (“Kenny”), Auswanderung nach Amerika (“Pelle, der Eroberer”), Jugoslawien unter Tito (“Papa ist auf Dienstreise”), die Armut der Straßenkinder in Peru (“Juliana”) oder Indien (“Salaam Bombay”), der II. Weltkrieg (‘Hope and Glory”, “Iwans Kindheit”) oder auch nur die erste große Liebe, der erste zärtliche Kuß (“Mein Leben als Hund”, “Das Jahr der Aufklärung”, “Das freche Mädchen”); besonders auffällig auch, wie viele neue sowjetischen Filme die Perspektive von Kindern benutzen, um die Situation in der Sowjetunion - heute wie in der Vergangenheit - zu beschreiben, so u.a. “Komm und siehe”, “Freiheit ist ein Paradies”, “Halte still - stirb - erwache”. Die Regisseure haben einfach die Kinderpupillen durch die Objektive ihrer Kameras ersetzt.
Sieben Filme, die aus der Perspektive von Kindern gedreht wurden, zeigen wir in diesem Sommersemester, sie sind in der Programmübersicht mit einem Sternchen markiert:
“Stand by me” (5.5.), Rob Reiners Verfilmung der autobiographisch angehauchten Kurzgeschichte “Die Leiche” von Stephen King, in der sich vier 12jährige Jungen auf die Suche nach einem Gleichaltrigen machen, der vermißt wird;
“Auf Wiedersehen Kinder” (12.5.), Louis Malles Erinnerungen an seine Freundschaft mit einem jüdischen Jungen, der in einem Internat in Frankreich 1944 vor den Nazis versteckt gehalten wurde;
“Schrei in der Stille” (19.5.), ein schaurig-schöner, surrealistischer Psychothriller über die Schrecken einer Kindheit am Ende der Welt;
“Zwei Welten” (26.5.) (s.0.);
“Iwans Kindheit” (2.6.), das grandiose Erstlingswerk von Andrej Tarkowskij über einen kleinen Jungen, der Ende des II. Weltkriegs als Späher für die sowjetische Armee dient;
“Mein Leben als Hund” (16.6.), ein Film über einen kleinen Jungen, der nach Krankheit und Tod seiner Mutter zu einem Onkel aufs Land zieht und dort neue Selbstsicherheit und Gemeinschaft kennenlernt. Ein beeindruckendes Meisterwerk, das mühelos die Balance zwischen ausgelassener Komödie und tieftrauriger Tragödie hält;
und schließlich “Cinema Paradiso” (23.6.), eine der schönsten Liebeserklärungen, die das Kino an sich selbstgemacht hat, aus der Sicht eines kleinen Jungen erzählt, der seine ganze Freizeit in einem sizilianischen Dorfkino verbringt.