Pather Panchali

Mittwoch, 27.5.1959 18:45  ! Köhlersaal
18:45 Pather Panchali

Programmheft SoSe 1959:

Eines Tages im Jahre 1952 ging ein 31 jähriger Graphiker in Calcutta mit dem Schmuck seiner Frau zum Leihhaus, um ihn dort zu versetzen. Dann mietete er eine uralte Filmkamera, und am ersten schönen Sonntag danach trommelte er ein paar befreundete Schauspieler zusammen, verfrachtete sie in ein Taxi und fuhr sie hinaus aufs Land zu einem malerischen Dorf, das er kannte. Hier und in der näheren Umgebung drehte er nun einfach drauflos — ohne Rücksicht darauf, daß er nie zuvor in seinem Leben einen einzigen Meter Zelluloid verfilmt hatte — und widmete seinem Filmprojekt jeden freien Tag, den er neben seiner beruflichen Tätigkeit erübrigen konnte. Nach etwa anderthalb Jahren ging er mit dem Produkt seiner Sonntagsfilmereien zur Provinzialverwaltung von Westbengalen und überredete sie, das Projekt als eine Art lebendiges Plakat für die Fremdenverkehrswerbung zu finanzieren. Ein Jahr später hatte Satyajit Ray PATHER PANCHALI im Kasten. Aber als die Beamten der Provinzialverwaltung den Film dann sahen, waren sie doch ziemlich erschrocken. Sie hatten immerhin den Großteil der Produktionskosten (etwa 150 000 DM) aufgebracht und geglaubt, einen Reisebericht zu bekommen. Doch was für ein merkwürdiges Ding war daraus geworden?
Es war aus Versehen ein Meisterwerk geworden. PATHER PANCHALI ist vielleicht das schönste Beispiel verfilmter Folklore seit Robert Flaherty's NANOOK OF THE NORTH (1920!) Es ist ein pastoral poem, erfüllt von dem Spiel prächtiger Bilder und starker, dunkler Gefühle — eine leuchtende, Offenbarung indischen Lebens in einer Sprache, die die ganze Welt versteht. In den drei Jahren seit seiner Uraufführung errang PATHER PANCHALI fünf große Preise von Cannes bis San Francisco. Und überall drängten sich anspruchsvolle Kinogänger durch die Drehkreuze in bescheidenen, aber immerhin eindrucksvollen Zahlen — überall, d. h. außer in den Vereinigten Staaten, wo der Film nur in San Francisco im Vogue Theater lief. Geringschätzig weigerten sich zwei Jahre lang die Besitzer der 36 Filmkunsttheater von Manhattan, diese „HeiIige-Kuh—Oper‚ ein Film von der Art, wie sie die Kritiker lieben, aber das Publikum haßt" (TIME, 17.2.58) zu zeigen.
Doch als PATHER PANCHALI im Fifth Avennue Cinema in Manhattan zum ersten Mal vorgeführt wurde, schlug er sogar den von GERVAISE aufgestellten Besucherrekord, und jetzt berichtet der Verleiher, daß Dutzende von Theaterbesitzern um Kopien betteln.

PATHER PANCHALI — die englische Fassung trägt den Titel THE LAMENT OF THE PATH (zu deutsch etwa: Klagelied vom Weg des Lebens) — erzählt die tragische Geschichte vom Leben einer Familie in einem kleinen Dorf.
Sie gehört der Kaste der Brahmanen an, und ihre Mitglieder sind jedes einzelne in dem denkbar naturalistischsten Stil so einprägsam charakterisiert, daß sie für jeden unvergeßlich sind, der den Film gesehen hat. Der Vater ist ein religiöser, bescheidener, aber unpraktischer Mann, „der voller Ideen für Theaterstücke und Gedichte steckt”, die er jedoch nie veröffentlicht.
Den Lebensunterhalt verdient er recht und schlecht als Pachteinnehmer.
Die Mutter ist eine reizbare, schwer arbeitende Hausfrau, im Grunde gutherzig, aber stets in Sorge, mit dem wenigen Gelde auszukommen. Es ist schwer genug, die Kinder, Apu, einen kleinen Schuljungen, und Durga, die 15jährige Tochter, einigermaßen zu kleiden und zu ernähren. Und die alte Tante — nach Ansicht der Mutter wäre es ein unerhörter Glücksfall für die ganze Familie, wenn sie sterben würde.

Man könnte meinen, all die Szenen von Armut und Tod, von denen der Film voll ist, müßten ihn niederdrückend machen. Aber sonderbar, sie tun es nicht. Da ist einmal die strahlende Schönheit der Bilder, die uns darüber hinweghebt. Mit einer Anmut, die an die alten Rajput-Maler erinnert, hat der Kameramann seine Visionen von der Welt der Natur in Einstellungen von zarter Lieblichkeit eingefangen: Tanzende Libellen über einem Teich — vom Windstoß gepeitschte Seerosen — der Regen, der einem jungen Mädchen ins Gesicht schlägt usw. Und dann überwindet die Familie auch irgendwie ihr tragisches Schicksal durch die Energie und Lebenskraft, mit der sie es durchlebt. Der Regisseur sieht im Leben mehr als die die bloße Tragik, er sieht auch das Groteske darin. Der Film sprudelt über von liebenswertem Humor, und man lächelt über die absurden Dinge, die Menschen tun, und die eingeschobenen komödienhaften Szenen — ein Schultag, ein Konzert, eine Theateraufführung — sind so lustig, wie organisierter Humor nur sein kann.