Bitterer Honig

Mittwoch, 11.11.1964 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Bitterer Honig

Programmheft SoSe 1982:

In der beklemmend grauen Industrielandschaft Englands gibt sich ein vereinsamtes Mädchen aus Sehnsucht nach etwas Verständnis und Liebe einem farbigen Matrosen hin. Ein Filmkunstwerk, reich an Atmosphäre, realistischer Beschreibung und darstellerischem Ausdruck. Das heikle Thema wird mit einer außergewöhnlichen Dezenz bewältigt.


 

Programmheft WS 1964/1965:

Mit A TASTE OF HONEY, der Verfilmung eines Bühnenstückes aus dem Bereich der neuen englischen Literatur, knüpfte Richardson an seine früheren Filme, LOOK BACK IN ANGER (Blick zurück im Zorn, 1959) und THE ENTERTAINER (Der Komödiant, 1960) an. Mit psychologischem Feingefühl und Sinn für die düstere Atmosphäre nordenglischer Industriestädte zeichnete er das Porträt eines Mädchens von »unordentlicher« Herkunft und ihrer Beziehung zu einem jungen Homosexuellen.

Richardson hat die Szenerie des Delany-Stückes — »Ein trostloses Appartment ohne jeden Komfort in einer verkommenen Pension in Manchester und die Straße davor« — viel geschickter in die reale Umgebung der Industrie- und Hafenstadt ausgeweitet, als ihm das Hinaustreten aus den vier Wänden von Jimmy Porters Dachbehausung auf Londoner Vorortstraßen in BLICK ZURÜCK IM ZORN geglückt war. Er hat dabei nur wenig und Unbedeutendes von den Dialogen gestrichen, diese vielmehr derart auf die vermehrten Handlungsorte verteilt, daß sich Wort und Bild zu filmpoetischer Fluidität verbinden. Er konnte dies tun, ohne dem Gehalt des Stückes Gewalt anzutun, weil die Autorin eine dem Gassen- und Gossenjargon abgelauschte, gänzlich unstilisierte Sprache schreibt; sie beobachtet eigentlich mehr als sie dichtet. Wovon er freilich nicht abwich, das ist die innere Struktur des Stückes, sein psychologischer Kammerspielcharakter.

Jo, eine bald achtzehnjährige Pennälerin, lebt mit Helen, ihrer Mutter, zusammen. Die Mutter, die mehr oder minder seit Jahren die Existenz einer Edelnutte geführt hat, heiratet schließlich einen zehn Jahre jüngeren, florierenden Vertreter mit Glasauge und läßt Jo allein. Jo erwartet ein Kind von einem schwarzen Matrosen, von dem sie nicht weiß, ob er sich je wieder blicken lassen wird. Sie lernt Geoffrey kennen, einen homosexuellen Kunststudenten, der zu ihr zieht und sich rührend um sie kümmert. Kurz vor der Geburt des Kindes taucht Helen, die von ihrem Vertreter an die Luft gesetzt worden ist, wieder auf.
Geoffrey muß das Feld räumen.

Es fällt auf, wie sehr dieser Plot in seinem äußerlichen Ablauf demjenigen von »LOOK BACK IN ANGER«‚ Richardsons erstem Film, ähnelt. Hier wie dort verläßt ein Lebenspartner den andern; ein neuer findet sich, der aber weichen muß, sobald das alte Paar sich wieder zusammentut. Allerdings sind in »A TASTE OF HONEY« die erotischen Beziehungen zwischen den Personen um einige Grade sowohl dekadenter als auch spiritueller. Darum ist dieser Film in seiner Humanität um einiges provokanter und großherziger als der erste.