Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr

Mittwoch, 31.1.1968 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr

Programmheft WS 1967/1968:

Alain Reshais (geb. 1922), heute einer der bedeutendsten Figuren des französischen Films, mit seinem Werk jedoch außerhalb der nouvelle vague stehend, studierte zunächst an der Pariser Filmhochschule, dem IDHEC, bevor er begann eine Reihe von Kurzfilmen zu drehen. Mit diesen erwies er sich bereits als eigenständiger Autor, der sein Thema von der Notwendigkeit des Erinnerns immer wieder aufs neue am Beispiel der Kunst, der Literatur und der Geschichte verfolgt. So wie die Kurzfilme „Guernica“ (1950), „Auch Statuen sterben“ (1951) oder „Nacht und Nebel” (1955), wie die beiden ersten Spielfilme „Hiroshima mon amour“ (1959) und „Letztes Jahr in Marienbad” (1961), ist auch der dritte Film „Muriel“ (1963), zu dem der Schriftsteller Jean Cayrol das Drehbuch schrieb, wiederum eine Meditation über das Verhältnis des Menschen zu seiner Vergangenheit, ferner die Beschreibung des Bewußtseins einer Handvoll Menschen, die glauben, sich mit der Lüge einrichten zu können. Im Gegensatz zu „Letztes Jahr in Marienbad“, wo eine allen konkreten Bestimmungen entrückte Welt beschrieben wird, in der die Personen wie im leeren Raum schweben, kehrt Resnais in „MurieI“ auf den Boden der Realität zurück; Ort und Zeit der Handlung werden angegeben: Boulogne-sur-mer, November 1962. Vor dem Hintergrund dieser Stadt führt der Film eine Gruppe von Personen zusammen: eine verwitwete Antiquitätenhändlerin; ihren Stiefsohn, einen jungen Algerien-Heimkehrer; den Jugendfreund der Antiquitätenhändlerin und dessen Geliebte. Für eine kurze Zeit leben diese Personen nebeneinander. Dabei treten unangenehme Wahrheiten zutage. Mehr und mehr erscheinen die Personen in ihrem wahren Licht; Lügen und Fiktionen zerbrechen.

Resnais demonstriert in „Muriel” eine faszinierende Aufsplitterung jedes Vorgangs, bis in seine kleinsten Phasen, bis in Satz- und Bildfetzen, die dann auf eine überraschende, oft sprunghafte Weise wieder ineinander verschachtelt werden. Er montiert blitzartig Szenen ineinander, die nur die Länge eines halben gesprochenen Satzes besitzen; zu einem Dialog zeigt er plötzlich Bilder, die scheinbar in einem fremden Zusammenhang stehen. Da in „Muriel” alle Vorgänge in einer konkret situierten Gegenwart spielen, verlangt jede Montagefolge, jedes eingesprengte Bild danach, rational auf den Hintergrund des Geschehens bezogen zu werden. in der Form des Films artikuliert sich das, worum es Resnais und seinem Autor Cayrol geht. Die Sprünge in der Kontinuität, das hin und her der Montage, der abrupte Wechsel der Einstellungen, der den Schauspielern keine Zeit gibt, irgendeine Szene „auszuspielen”: in all dem konkretisiert sich das Suchen der Personen nach Klarheit über sich selbst, ihr Kampf mit dem Zweifel und der Unsicherheit ihrer Entscheidungen.