Lemmy Caution gegen Alpha 60

Mittwoch, 29.11.1967 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Lemmy Caution gegen Alpha 60

Programmheft SoSe 1967:

Das Verständnis von ,AlphaviIle‘ ist schon vergeben, wenn der Inhalt erzählt wird: „In eine Stadt, die von einem Elektronengehirn beherrscht ist, kommt ein Geheimagent...“.
Als naiv mitvollziehbare Geschichte bietet sich ,Alphaville' gar nicht dar.

Eine Stadt, in deren Norden Schnee liegt, in deren Süden die Sonne scheint und deren Bewohner nummeriert sind. Aber ein Mädchen hat die Nummer 508, und es bleibt keinem erspart, zu bemerken, daß dreistellige Zahlen höchst ungeeignet sind, die Bewohner einer Stadt solchen Ausmaßes zu erfassen. Man sieht in gespenstischer Beleuchtung moderne Bauten und Wagentypen des täglichen Lebens, und der Film spricht von Reisen durch die Milchstraße, von 1990. Von
einem Elektronengehirn, das aber, nach einem Kalauer erster Klasse, durch eine unlösbare Frage zerstört wird. Und
wie im Märchen eine Blume so lange blüht, wie der Prinz am Leben ist, geht den Bewohnern von Alphaville mit dem Ende des Elektronengehirns die Luft aus oder die Schwerkraft oder etwas ähnliches. Man findet also Fragmente von Geschichten, nicht solche, deren Chronologie durcheinandergebracht worden wäre, sondern die gar nicht fugenlos aneinanderschließen; sie gehören verschiedenen Ebenen der Realität und der Erfindung an. Aber sie sind auch nicht völlig unabhängig voneinander: sie gehören zum selben Thema.

Ihr gegenseitiges Verhältnis ähnelt dem von Beispielen, die in einem Essay die Gedankengänge belegen . . .

Die Elemente des Films, die durchgehend gewahrt bleiben, die Geschichte Lemmy Cautions, seine Agententätigkeit und
sein Kampf gegen den Roboter, sind als übernommene Standardelemente einer Fiktion als Erfindung gekennzeichnet in
gleichem Maß wie die Verführerinnen verschiedener Kategorien; Lemmy Cautions Geschichte ist um keinen Grad
glaubwürdiger als die Erfindung der zensurierten Lexikon-Bibel. Auch sie ist eine der schrecklichen Vereinfachungen,
wie sie der revidierten Vorstellung von Utopia angehören.

Es sind mit Lemmy Caution auch die optischen Ingredienzien des Agentenfilms übernommen, Schießereien, ungewisse Beleuchtung, eine reduzierte Begriffswelt. Und vom Science-Fiction-Roman die Reise durch die Milchstraße und der Roboter, aus der Bibel das „Dreh dich nicht um” von Sodom und Gomorrha. In einer solchen Fülle sind Züge entlehnt oder nach Entlehnungen erfunden, daß die begriffliche Vereinfachung des Kampfes von ‚Tarzan gegen IBM‘ (so sollte ursprünglich der Titel lauten) aus seiner Abstraktion zum Leben erweckt wird. Zu einem Scheinleben — aber die Häufung von Unwahrscheinlichkeiten ergibt eine Unnatur mit eigenem Gesetz. Ein Geflecht von optischen und akustischen Eindrücken bewegt den Film außerhalb erdenschwerer Logik . . .
Man wird aber Godards Entlehnungen nur so lange als Spielereien ansehen, wie man neben ihrem Spaß nicht auch ihren Ernst erkannt hat. Das Schlagzeilendenken, dessen Inhalt sich nach dem Fassungsvermögen eines Hauptsatzes mit Ausrufezeichen richtet, ist nicht nur eine Reminiszenz an die Dialoge der Comicstrips, die in eine Blase passen müssen, es entspricht auch der Art, wie ein von den Chocs der Großstadt in Bewußtlosigkeit versetzter Bürger von einer Boulevardzeitung wenig mehr als die Schlagzeile aufnimmt. Die scheinbar abstrakt behandelten Inhalte und Stilzüge, aus denen Godard seinen Film zusammensetzt, die verkürzte Ausdrucksweise, die akustisch variierten Banalitäten, die Agentenfilmversatzstücke entstammen der Wirklichkeit der Massenpublizistik und Unterhaltungsindustrie und werden u Bestandteilen einer neuen Fiktion mit hohem Wirklichkeitsbezug. Godard hat auf wunderbare Weise die Bedingungen, unter denen heute die Unterhaltungs- und Informationsprodukte entstehen und konsumiert werden, beim Schopf gepackt und befolgt, doch wurde bei ihm ihre Banalität zum auffälligen Inhalt. Der Zuschauer erlebt in ‚Alphaville‘ bei vollem Bewußtsein die Reduktion der Intelligenz in den Massenmedien. ,Alphaville‘ ist eher ein Film der Zukunft über die Gegenwart als ein Film der Gegenwart über die Zukunft. Deutlicher als im barbarischen Philosophieren mit untauglichen Mitteln steckt sein Gehalt im Stil. Einer allgemeinen Entwicklung folgend begibt sich Godard ins Innere der Mythen, aber auf eine so gewissenhafte Weise häuft er sie aufeinander, daß sie sich gegenseitig verwirren. Er gibt keine Lösung des Knotens — längst ist die Wahrheit eine der Verkleidungen der Propaganda für die Lüge geworden —; im Gegenteil zeigt er, wie aussichtslos es ist, von einem Massenmedium Wahrheit zu erwarten. Vorformulierte Lösungen zu verbreiten, ist suspekt geworden, die Alternative zu dem, was gezeigt wird, liegt im Zuschauer selbst.
Nicht in der Gegenposition der Poesie, die Lemmy Caution so rührend einfältig verteidigt, ist die Rettung zu suchen. Die Utopie hat als Reflexion in den Durchblicken Platz, die die brüchige Geschichte läßt.

(Herbert Linder in „Filmkritik” 10/65)