Der zweite Atem

Mittwoch, 27.11.1968 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Der zweite Atem

Programmheft WS 1968/1969:

Ein bemerkenswerter Gangsterfilm, voller Handlung, Spannung und Wahrscheinlichkeit. Melville hat aus schwierigen Umständen — die verzwickte Geschichte eines ausgewachsenen Romans war zu verfilmen — das beste gemacht, das Vernünftigste, wie man so sagt: er meidet den Ausweg in die Parodie, und er verfällt auch nicht in die konforme Attitüde des verzagten Ästheten. Also kein Cineasten-Film, sondern ein Film, dem stilistische Mittel Mittel bleiben, eine Geschichte zu erzählen.

Gustave Manda, genannt Gu, bricht aus dem Gefängnis aus, in dem er acht Jahre gesessen hat. Er entledigt sich zweier Untergangster, die seine „Schwester“ Manouche belästigen, auf eine so vollkommene Weise, daß er den Kriminalkommissar auf seine Fährte lockt. Um den Rest seiner Tage nicht auf dem trockenen sitzen zu müssen, nimmt er einen letzten Anlauf und beteiligt sich an einem Überfall auf einen Geldtransport.

Melville verzichtet bei diesem Film auf alle Schnörkel und alle Labyrinthik, und nicht zuletzt darum ist „Der letzte Atem“ ein Film ohne Fehler. Die Handlung — vom ersten Augenblick an transparent, von einer Kamera-Dramaturgie zerlegt, die die Filmtypen entfleischt, sie als Skelette eines Genres darbietet — schreitet streng chronologisch vor, unter Aussparung allen ornamentalen Beiwerks; harte Schnitte, ein paar kurze Blenden tragen die Situation zusammen; um letzte Zweifel zu beseitigen, scheut sich Melville nicht, Zwischentitel zu bringen: „Le même soir 23.58 h.“ Informationen, genaue Daten sind ihm das Wesentliche. Nur dort, wo es topographische Bedingungen anschaulich abzubilden gilt, erlaubt Melville seinem Photographen Marcel Combes sparsame Schwenks, die Übersicht und Abgrenzung schaffen, so in der vortrefflichen Szene, die den Überfall vorbereitet: hier darf der Zuschauer mit der Kamera durch eine klar gegliederte Landschaft die strategischen Punkte abwandern. In den Innenszenen dominiert das versierte Arrangement: Männer-Dreiecke in fast leeren Räumen total oder halb-total gesehen; Spannung läßt sie zu Standbildern einfrieren; rhythmisch gesetzte Gegenschüsse bewirken Beschleunigung, dramatische Zuspitzung.

Wenn auch Melvilles Film weit entfernt ist von allem wohlfellen sozialkritischen Pathos, so gibt er dennoch Anlaß, die beiden Seiten zu vergleichen; Exponent der Polizei ist Kommissar Blot, ein Mann, der auch vor kriminellen Mitteln nicht zurückschreckt, um seiner Opfer habhaft zu werden und der über einen Katalog mittelalterlicher Torturen gebietet, um sie zum Sprechen zu bringen. Ein Mann, der auch auf der anderen Seite stehen könnte: ein soziologisch wenig relevanter Zufall hat ihn zum vorgeschobenen Posten einer Bourgeoisie werden lassen, deren Vehemenz in der Verfolgung des Gangstertums dem Unbehagen entspricht, mit dem sie sich in ihm wiedererkennt.