Mord und Totschlag

Mittwoch, 22.1.1969 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Mord und Totschlag

Programmheft WS 1968/1969:

Zwei streiten sich, verlieren die Kontrolle über sich, ein Schuß fällt, und plötzlich ist einer der beiden, wie unbeabsichtigt‚ tot. So etwas kommt in einem Gangsterfilm nicht vor, denn da passieren Morde aus voller Absicht, allenfalls im Affekt, während der Tod hier zufälliges Produkt eines Spiels ist. Man kann dergleichen eher in der Zeitung lesen, und in der Tat hat Schlöndorff seine Geschichte in der Zeitung gefunden. Aber von diesem tatsächlichen Mordfall übernimmt er lediglich die äußeren Momente: die Tatsache des Mordes, die Tatsache, daß das Mädchen zwei Leute anheuert, um die Leiche wegzuschaffen.

Schlöndorffs wesentlicher Kunstgriff besteht darin, die Geschichte, die in ihrem äußerlichen Verlauf so sehr eine Kriminalgeschichte ist, nicht von Kriminellen spielen zu lassen, sondern von Jugendlichen, wie sie einem auf der Straße begegnen mögen. Das verschafft dem Film innere Spannung, weil Menschen in einer zugespitzten Situation etwas höchst Außergewöhnliches, sogar Kriminelles, tun müssen, das sie „normalerweise“ nicht tun und das man von ihnen nicht erwartet. Diese Grundkonstruktion des Films — das Hineinrücken eines Kriminalfalles in den Alltag — ermöglicht es Schlöndorff, Auskünfte über seine Figuren zu beziehen und über die Welt, in der sie leben. So liefert der Film die Anatomie eines bestimmten Teils der jungen Generation.

Marie ist zweiundzwanzig, von zuhause weggelaufen, hat verschiedene Jobs durchprobiert und ist jetzt Kellnerin in einem Espresso. Sie ist unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und will jetzt das tun, was ihr Spaß macht. In ihren Erzählung von den Stiefeln formuliert sich der lange gehegte Wunsch nach Reichtum und Unabhängigkeit und vielleicht auch die Erkenntnis, daß dieser so große Wunsch sich mit ein paar Stiefeln erfüllen läßt, weil mehr Wünsche nicht da sind. Für Marie hat die Zeit der Desillusionierung begonnen. Sie ist in eine Welt hineingewachsen‚ die anders funktioniert, als sie sich das vorgestellt hat, und das gibt ihr ein Gefühl der Unsicherheit. Volker Schlöndorff hat das in einem Interview so gesagt: „Der Film... will ein bestimmtes Lebensgefühl, eine bestimmte Lebenserwartung, ausdrücken“, und auf die Frage: Welche?: „Diese Art von Erwartung besteht darin, daß man nichts erwartet; das Chaos soll nicht organisiert werden. Man muß versuchen, ohne Weltbilder zu leben.” Am deutlichsten artikuliert Schlöndorff Maries Orientierungslosigkeit in den Augenblicken, in denen sie mit einer Welt zusammentrifft, die für sie ordentlich und heil sein muß. Sie kann mit dieser Welt nichts anfangen, sie steht ihr fremd, unsicher, ablehnend gegenüber; so etwa in der Begegnung mit der Tante von Fritz in einem kleinen Dorf oder in der Szene nach dem Autounfall.

Für Günther und Fritz bietet sich eine willkommene Gelegenheit zu dem Abenteuer, das ihnen ihr Alltag verweigert; das versprochene Geld ist ihnen letztlich nicht wichtig. Sie haben am Ende ihr Abenteuer gehabt, und dann ist alles vorbei; der Wunsch, mit dem Auto einfach weiterzufahren, bleibt Utopie. Alle drei kehren zu ihrer alltäglichen Arbeit zurück.