Programmheft WS 1960/1961:
Nach der abstrakten Kunst und dem Dadaismus bemächtigte sich nun der Film des Surrealismus... Luis Bunuels „Un chien andaIou” gehört mit „Entr'acte” von René Clair zu den Meisterwerken der Avantgarde. „Schön wie die Begegnung eines Regenschirmes und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch”, dieser Ausspruch von Lautréamont war für die Surrealisten zu einem Schlachtruf geworden, und er ist wohl der Schlüssel zu „Un chien andalou”.
Die Poesie eines Benjamin Péret und die Malerei eines Max Ernst gründeten sich damals auf die paradoxe und zusammenhanglose „Montage" verschiedener Figuren und Wörter. Bei diesen barocken Zusammenstellungen überließ man sich dem Unbewußten oder dem reinen Zufall. Man konnte sich auf das Absurde, auf die neuen Formen der poetischen Symbolik berufen. Es wurde später behauptet, daß der ganze Film psychoanalytisch zu interpretieren sei, zum Beispiel jene Episode, wo der Held eine Frau begehrt, sie umarmen will und davon zurückgehalten wird durch lange Stricke, an denen Kürbisse, zwei Seminaristen und ein mit verwesten Eseln gefülltes Klavier befestigt sind. Dieser Auslegung zufolge ließe sich die Allegorie in einem Satze erklären: Die Liebe (der Anlauf des Helden) und die Sexualität (die Kürbisse) sind gehemmt (die Stricke) durch religiöse Vorurteile (die Seminaristen) und die bürgerliche Erziehung (das Klavier und die verwesten Esel).
In Wirklichkeit hatten Bunuel und Dali, als sie das Szenarium verfaßten, nach überraschenden und absurden Requisiten gesucht, ohne daß sie ihnen einen symbolischen Sinn unterlegen wollten. Diese Suche nach verblüffenden, heftigen Effekten ist der primitiven Konzeption der „Kollision” bei Eisenstein verwandt. Beide Methoden haben einen gemeinsamen Ursprung in den ähnlichen Theorien verschiedener Avantgardisten.
(Aus G. Sadoul „Geschichte der Filmkunst")