Neun Tage eines Jahres

Dienstag, 25.1.1972 20:00  ! Köhlersaal
20:00 Neun Tage eines Jahres

Programmheft SoSe 1966:

»Alles Neandertaler«, sagt Ilja (Innokentij Smoktunowskij) bei dem Gespräch im Restaurant, »die Amerikaner, die Franzosen, die Deutschen, unsere, alles Neandertaler«. Das ist, wenn auch aphoristisch pointiert, weniger eine physiognomische Betrachtung als eine politische Konfession. Ilja glaubt nicht an den Fortschritt, an den sozialistischen so wenig wie an den kapitalistischen. In seinen Worten wird das Weltbild des Kommunismus jäh zerrissen. llja repräsentiert nur eine der drei Positionen dieses Films. Aber — was für uns im Westen so erstaunlich ist — es ist eine mögliche Position. Der Film spielt größtenteils im Osten Rußlands‚ in einer Enklave atomarer Forschung, irgendwo in Sibirien. Das System honoriert die Spezialbegabung der dort tätigen Wissenschaftler nicht nur mit äußerem Wohlstand, sondern auch mit einer gewissen politischen Exklusivität.

Auch Lolja (Tatjana Lawrowa) und Mitja (Alexej Batalow), die Repräsentanten der beiden übrigen Positionen des Films, sind keine linientreuen Kommunisten. Sie negieren die Politik und wenn sie gelegentlich darauf hindeuten, dann mit jener Lässigkeit, die seit Beginn der Tauwetterperiode für russische Filme kennzeichnend ist. Mitja ist der Leiter einer Forschungsgruppe, die sich um die Darstellung thermonuklearer Reaktionen bemüht. Er gerät dabei mehrfach in den Bereich gefährlicher Strahlungen und muß schließlich todkrank in ein Hospital gebracht werden. Lolja‚ die sich zwischen ihm und Ilja hatte entscheiden müssen, duldet an seiner Seite die Launen eines egozentrischen Genies. Ihre Liebe zu Mitja ist bewußt kritisch, von wacher Sensitivität. Gelegentlich fühlt man sich dabei an die Frauengestalten Antonionis erinnert.
Allerdings erinnert dieser Film nicht nur an Antonioni, sondern auch an die Ufa-Filme der dreißiger und vierziger Jahre. »Neun Tage eines Jahres« darf jedoch durchaus den Anspruch erheben, den Wissenschaftler, der ohne Rücksicht auf seine private Existenz heroisch seinem Ziel entgegen-strebt, mit weniger Pathos und wesentlich differenzierter vorzutragen, als es hierzulande üblich gewesen ist.

Der deutsch-sowjetische Kulturaustausch auf dem Gebiet des Films wurde mit diesem Werk eröffnet. Bei der bundesdeutschen Premiere sagte CDU-MdB Martin: »Das macht mir wieder Hoffnung für den Deutschen Film.«