Rashomon - Das Lustwäldchen

Dienstag, 23.11.1993 20:00 Audimax
20:00 Rashomon - Das Lustwäldchen

Programmheft WS 1993/1994:

Japan, 11. Jahrhundert: Ein Zen-Priester, ein Holzfäller und ein Knecht suchen vor einem gewaltigen Wolkenbruch in einer Tempelruine Schutz.

Ihr Gespräch kreist um ein grausiges Verbrechen: Ein berüchtigter Bandit überfiel ein Ehepaar, vergewaltigte die Frau und tötete den Mann. Vor Gericht sagen Zeugen und Beteiligte - der Bandit, ein Holzfäller, die Frau und auch der Tote - aus, doch jeder erzählt eine völlig eigene Version des Geschehens.

Rashomon ist der erste japanische Film nach dem Krieg, der auf eines der renommierten Filmfestivals eingeladen wurde, nach Venedig. Dort war man begeistert und krönte das Werk mit dem goldenen Löwen. Nun begann der Siegeszug um die Welt, und diese interessierte sich auf einmal für japanische Filme.

Weiterhin wurde Rashomon auch mit dem Oscar 1952 für den besten nicht-englischsprachigen Film ausgezeichnet.


 

Programmheft WS 1966/1967:

Unter dem zerstörten Stadttor von Kyoto suchen ein Holzfäller, ein Knecht und ein buddhistischer Priester Zuflucht vor dem Regen. Es ist eine Zeit kriegerischer Unruhen (die Geschichte spielt im Japan des achten Jahrhunderts), das Land leidet unter Hungersnot, ein Menschenleben ist nicht viel wert. Der Holzfäller und der Priester berichten von einer Gerichtsverhandlung, der sie als Zeugen beigewohnt haben: Ein Samurai und seine Frau waren im Wald mit Tajomaru, dem Räuber, zusammengetroffen; die Frau wurde vergewaltigt, der Samurai getötet. Der Holzfäller erzählt zunächst, was er vor Gericht ausgesagt hat, wie er den toten Samurai entdeckt habe. Der Priester hat vor Gericht über seine Begegnung mit dem Samurai und der Frau berichtet und ein Polizist über die Gefangennahme des Räubers. Dann folgen nacheinander die Schilderungen der Ereignisse aus der Sicht der Beteiligten und des Holzfällers‚ der in Wirklichkeit Zeuge der Tat war, was er vor Gericht aber verschwiegen hatte. Alle vier Versionen (in einer Totenbeschwörung kommt durch ein Medium auch der Geist des Samurai zu Wort) widersprechen einander. Der Priester verzweifelt an der menschlichen Natur, besonders als offenbar wird, daß der anscheinend ehrenhafte Holzfäller den wertvollen Dolch des Samurai entwendet hat. Aber sein Glaube an die Menschheit wird wiederhergestellt als der Holzfäller ein am Tor ausgesetztes Baby aufnimmt, um es mit seinen eigenen sechs Kindern zu erziehen...

Die einzelnen Versionen werden dem Zuschauer in Form von Rückblenden dargeboten. Es lassen sich drei Hauptdekors unterscheiden, die eine jeweils unterschiedliche formale Behandlung aufweisen:

  1. das Tor: sein Verfall spiegelt die Situation des Landes wider und die Auflösung der Sitten, von der der Priester spricht. Erst am Ende des Films, als der Holzfäller durch die Aufnahme des Kindes neue Hoffnung setzt, weicht der trostlose Regen der durchbrechenden Sonne.
  2. das Gericht: die Helle und Klarheit des Hofes kennzeichnet das Gericht als einen Ort der Wahrheitsfindung, an dem die Menschen sich offenbaren. Die Personen sind größtenteils in starren Einstellungen aufgenommen, sie wenden sich direkt an den Zuschauer; das Gericht greift überhaupt nicht in die Ereignisse ein.
  3. der Wald: der Ort der eigentlichen Aktion. Die Erscheinungen bleiben unbestimmt: Das durch die Bäume gefilterte . Sonnenlicht variiert ständig und taucht das Geschehen in unklares Halbdunkel oder leuchtende Helle.

In den beiden mittleren Versionen (der Frau und des Samurai — also der unmittelbar Betroffenen) stirbt der Samurai durch seinen Dolch, in der ersten und vierten Version kommt er durch das Schwert um. Die ersten drei Versionen sind von einem musikalischen Thema begleitet, während die letzte Version (des Holzfällers) nur vom Keuchen und Stöhnen der Kämpfenden untermalt ist — ein vollkommener Gegensatz zu dem fast balletartig stilisierten Kampf in dem Bericht des Räubers. Doch der Eindruck der objektiven Wahrheit, der auf Grund der formalen Behandlung bei dieser Version entsteht, wird wieder in Frage gestellt durch den offenbar werdenden Diebstahl des Holzfällers.

Relativität der Wahrheit? Zumindest gibt es keine Instanz, die die absolute Wahrheit festlegt: das Gericht fällt kein Urteil. Die Wirklichkeit kann nicht objektiv rekonstruiert werden aus den Aussagen, sie kann nur erlebt werden. Die Wiedergabe ist bereits eine Brechung der Wirklichkeit. Der Priester verzweifelt nicht an der Tat, aber auch nicht an der etwaigen Unmöglichkeit einer absoluten Wahrheit, sondern an den verschiedenen Versionen des Geschehens. Die Figur des Kindes, das in der Vorlage nicht vorkommt, ist ein Indiz dafür, daß Kurosawa sich vielmehr auf die Wirklichkeit konzentriert als auf die philosophische Untersuchung der Realität der Wahrheit. Die Adoption des Kindes durch den Holzfäller, die einmal als Sühne für den Diebstahl des Dolches oder auch als symbolische Handlung verstanden werden kann, ist zunächst ein Beweis dafür, daß der Mann, der das Gute tut ebenso auch das Böse tun kann. So sind auch die anderen Personen des Films — der Räuber, der Samurai, die Frau — nicht eindeutig negativ geschildert. Ein echter Gegensatz offenbart sich nur in den Figuren des Holzfällers und des Knechtes. Während der Knecht die These vertritt: „Jeder denkt nur an sich” und entsprechend handelt, gelangt der Holzfäller zu der Überzeugung: „Man muß doch endlich etwas tun!“ — die (ideale) Forderung des Priesters wird durch die alltägliche Wirklichkeit erfüllt.