Dokumentarfilm

Filmseminar im WS 1984/1985

Dokumentarfilm hat keinen guten Ruf, hier und heute. Grau und langweilig sei er, belehrend und - im besten Fall vielleicht noch - randvoll mit Informationen zugekleistert, die kein Mensch verarbeiten kann. Kurzum: nicht das, was man unter einem interessanten Kinoerlebnis erwartet.
 
Das war nicht immer so. Das muß auch heute nicht so sein. "Nanuk, der Eskimo" ("Nannook of the north"), von Robert J. Flaherty 1920/21 gedreht, war weltweit einer der erfolgreichsten Dokumentarfilme und begründete den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre. Heute würde man die dramatische Geschichte vom Überlebenskampf einer Eskimofamilie schon mit Vorsicht dokumentarisch nennen. Flaherty's Filme sind "slight narrative" (etwa: "sacht erzählerisch" ); ein Handlungsfaden wird inszeniert, um den Ereignissen des alltäglichen Eskimo-Lebens einen filmischen Rahmen zu geben.
 
Hauptthema unseres Seminars sind jedoch nicht die Filmgeschichte, sondern Tendenzen und Möglichkeiten des zeitgenössischen Dokumentarfilms. Und hier hat sich in den letzten Jahren eine Vielfalt und Lebendigkeit herausgebildet, die aber bisher kaum an ein größeres Publikum herangekommen ist. Immer noch gilt Dokumentarfilm als nicht kinogerecht. Einer der wenigen Filme, die dieses Vorurteil durchbrechen konnte ist "Septemberweizen" von Peter Krieg, wohl der bekannteste und meistgezeigte Dokumentarfilm der letzten Jahre. Wer die filmisch brillante Analyse des weltweiten Geschäfts mit dem Weizen noch nicht gesehen hat oder mal wieder sehen will, hat am 30.10. Gelegenheit dazu. Wir zeigen alle sieben Kapitel hintereinander.  
 
In Sachen Publikumsgunst in die Fußstapfen von "Septemberweizen" zu treten verspricht "Der Versuch zu leben" von Johann Feindt, in diesem Jahr mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet. Unter Verzicht auf Kommentar beobachtet der Film die Geschehnisse in der Notaufnahmestation des Berliner Urban-Krankenhauses, berichtet von diesem aus unserem Alltagsbewußtsein verdrängten Territorium, Schicksalen von "Stammkunden", ärztlicher Hilfsbereitschaft und wie sie in der Routine mit Zynismus sich tarnt. (läuft am 6.11.)
 
Pier Paolo Pasolini ist an unserer Schau mit dem "Gastmahl der Liebe" ("Comizi d’amore"), von 1963, beteiligt; einer Untersuchung über das Verhältnis der Italiener zur Sexualität. Der Interview-Film ist eine der persönlichsten Arbeiten des italienischen Regisseurs und war hierzulande bisher nicht im Kino. (läuft am 13.11.)
 
In "Mit starrem Blick aufs Geld" porträtiert Helga Reidemeister das Fotomodell- und Mannequin Hilde Kulbach, ihre Schwester. Aber der Film läßt sich von Glamour-Karriere und Jet-set nicht blenden und liefert eine subtile Studie über die Paarung von Geld und Schönheit. Zu seiner Qualität gehört, daß er sich dabei auch die Ehrlichkeit in der Beziehung zwischen den ungleichen Schwestern bewahrt. (läuft am 27. 11.)  
 
Mit der analytischen ("Septemberweizen"), beobachtenden ("Der Versuch zu leben"), befragenden ("Gastmahl der Liebe") und porträtierenden ("Mit starrem Blick aufs Geld") Variante sind die Methoden des Dokumentarischen natürlich nicht erschöpft. So fehlt in unserer Reihe etwa der konkret-politische Film. Aber die Startbahn-West ist nicht mehr aktuell und unter den Filmen zum Thema Frieden gibt es wenig überzeugendes. Gerne hätten wir auch den Essay-Film "Unsichtbare Sonne" ("Sans Soleil") von Chris Marker dabeigehabt, aber der ist noch in der Kinoauswertung. Vermissen wird man in unserer Reihe vielleicht auch den langen ethnographischen Dokumentarfilm (z.B. Schamanen im blinden Land"). Aber unbedingte Vollständigkeit war nicht Absicht dieses Seminars.
 
Auch soll es in unserem "Seminar" nicht trocken akademisch zugehen.
Die engstirnige Frage "was ist dokumentarisch?" etwa wird nie einfach und endgültig zu beantworten sein. (Eine einfache Frage zum Beispiel: Ist "Koyaanisquatsi" Dokumentarfilm oder nicht?) Tatsache ist, daß der Dokumentarfilm heute vielleicht die experimentierfreudigste und innovativste Filmgattung überhaupt ist. Dafür mehr Interesse zu wecken, ist auch Absicht des Seminars. Warum sollten nicht auch öfter Dokumentarfilme im Donnerstags-Programm der Filmkreis auftauchen?
 
Aus der Praxis des Dokumentarfilmers berichten am 4.12. die Darmstädter Filmemacher Hannes Karnick und Wolfgang Richter. Die beiden stellen u.a. ihren neuen Film "Autovision" vor, der sich mit dem wachsenden Einsatz neuer Technologien in der Automobilindustrie befaßt. Der bei Opel gedrehte Film ist nicht nur für Technikfreaks interessant, sondern geht auch Hintergründen und Auswirkungen der neuen Technik nach. Apropos "30 Jahre Filnkreis": Hannes Karnick und Wolfgang Richter waren vor 15 Jahren selbst Mitglieder des Studentischen Filmkreis THD!
 
In unserem Exkurs in die Geschichte des Dokumentarfilms am 11.12. wird der schon erwähnte "Nanook" ergänzt von einem Beispiel aus der berühmten englischen Dokumentarfilmschule um John Grierson (1898-1972). Von ihm stammt der richtungsweisende Satz, daß man Dokumentarfilme nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Bauchmuskeln drehe. "Night Mail", von Bazil Wright und Harry Watt 1936 gedreht, steht als Beispiel für diese Schule, die sich realistisch aber zugleich poesievoll von den "romantischeren" Filmen Flahertys abhebt. Mit der Einführung der leichten 16mm-Kameras Ende der 50er Jahre und ihrem Einfluß auf die Entwicklung des Dokumentarfilms ("cinéma vérité etc.) setzt sich ein dritter Beitrag dieses Abends auseinander.
 
Am 12.12. setzen wir dann einen kulinarischen Schlußakzent unter die Seminarreihe. "Dry Wood" und "Hot Pepper" von dem Filmemacher Les Blank dokumentieren Leben, Musik und - nicht zuletzt - Küche der franko-amerikanischen Cajuns und ihrer schwarzen Nachbarn in Louisianna.
 
Die Dokumentarfilme von Les Blank (von Haus aus eigentlich Werbefilmer) gehören zu den lustvollsten und vergnüglichsten überhaupt, so daß wir nicht verstehen könnten, wenn irgendjemand sich diese Filme entgehen ließe. In diesem Programm zeigen wir auch noch "Garlic is as good as ten mothers" ("Knoblauch ist besser als zehn Mütter"), Les Blanks besessene Hommage an die würzige Knolle und gegen ihre Mißachtung in der amerikanischen Küche.
 
Weil dabei wirklich niemand mehr wird ruhig als Zuschauer in den Kinosesseln sitzen bleiben können, laden wir alle Teilnehmer unseres Dokumentarfilm-Seminars zum Abschluß noch zu einem kleinen Schmaus bei Knoblauchbrot und Rotwein.