Über das Unwirkliche im Film

Es war nicht leicht, für das psychologische Filmseminar dieses Semesters einen passenden Titel zu finden, und auch der, auf den wir uns schließlich faute de mieux geeinigt haben, umfaßt rein begrifflich sehr viel mehr, als letzten Endes gemeint ist und gemeint sein kann. Denn »unwirklich« ist schließlich jeder Filminhalt — nicht der Film an sich: der ist psychologisch und soziologisch höchst bedeutsame Wirklichkeit —, und Unwirkliches im engeren Sinne, d. h. jeder möglichen Realität Widersprechendes, finden wir in vielen Filmgattungen, in Märchen-‚ Grusel-, Horrorfilmen, in surrealistischen und Sience-Fiction-Filmen, von den sogenannten »historischen« ganz zu schweigen, wir finden es in Streifen, die der Werbung oder der Propaganda dienen, und schließlich auch dort, wo es nur allzu viele nicht vermuten, in Heimat- und Liebesschnulzen.
Das Unwirkliche hingegen, das wir meinen, ist schwer zu definieren, eher noch intuitiv zu erfassen. Es kreiert daher auch keine eigene Filmgattung. Es hat etwas Märchenhaftes an sich, sprengt aber die tradierte Form des Märchens. Es handelt sich um eine Art des Unwirklichen, dessen dramaturgische Bedeutung darin liegt, daß sein Symbolcharakter, mag er einer Deutung zugänglich sein oder nicht, den ganzen Handlungsablauf durchwirkt. Klassische Prototypen dieses Genres sind eine Reihe französischer Filme der Nachkriegszeit, wie »La Belle et la Bête«, »Les Visiteurs du Soir« und vor allem »Orphée« — ein Beginn, der dann insbesondere im Schaffen Ingmar Bergmans einige beinahe schon exzessiv zu nennende Höhepunkte erreichen sollte.
Die meisten dieser Filme sind sehr eindrucksvoll, vor allem deswegen, weil sie sich, mit wenigen Ausnahmen, einer rationalen Deutung, ja selbst schon einer distanzierten Anschauung weitgehend entziehen. Sie wenden sich mehr noch als der normale Film an bewußtseinsferne oder unbewußte seelische Bereiche; aus diesem Grunde ist es für den Betrachter auch sehr schwierig, derartige Bildinhalte unter Kontrolle zu bekommen. Wenn sie daher auch allgemein als »gute« Filme gelten, so ist damit über die psychologische Wirkung noch lange nichts gesagt.
Wenn der Symbolgehalt eines solchen Films auf korrespondierende archetypische Vorstellungsweisen trifft, dann kann eine heilsame seelische Aktivierung die Folge sein. In anderen, schwer vorauszusagenden und individuell unterschiedlichen Fällen, in denen etwa uralte Menschheitstabus verletzt werden — darin ist Bergman unbestreitbar Meister —, kann der Betrachter in nachhaltige Konfliktsituationen geraten. Und schließlich sei auch nicht vergessen, daß das Unwirkliche im Film gewissen neurotischen Naturen, deren seelische Fehlhaltung darin besteht, daß sie vor dem Kontakt mit der Wirklichkeit zurückscheuen, eine geradezu ideale Fluchtmöglichkeit verschafft, indem es ihnen eine Traumwelt bereitstellt, in der sie sich geborgen wähnen, freilich nur um sich bei erneuter Konfrontation mit der Realität um so tiefer neurotisch zu verstricken.