Free Cinema

Englische Experimentalfilme

Die Produzenten der drei Filme „Together", „O Dreamland" und „Momma Don't Allow”, die im Februar 1956 im National Film Theatre, London, ein besonders anregendes Programm bildeten, dementierten in einer Programmnotiz den Gedanken einer „Bewegung” — die Filme wurden lediglich durch Zufall zusammen vorgeführt. Als die Filme zusammenkamen, „empfanden ihre Schöpfer, daß sie in ihrer Haltung etwas gemeinsam hatten, und so wurde das Programm „Free Cinema” getauft. Tatsächlich sind die gemeinsame innere Haltung und der „neue Geist” der Filme weniger zufällig, als die Programmnotiz besagt; natürlich hat jeder der Filme seine eigene Note, es wurde jeder der drei Filme gesondert und unabhängig erdacht, aber es ist kein Zufall, daß die gleichen Namen auf der Programmliste eines jeden der drei Filme erscheinen. Bevor man diese Filme in einem gemeinsamen Programm sieht, ist es geradezu unmöglich, sich vorzustellen wie sie einander ergänzen; jedoch war es zuvor schon klar, daß Menschen mit einem „suchenden Geist" zusammenarbeiteten, und zwar durch eine Verbindung von Zufall und Plan.

Die Parallele zu Lawrence ist vielleicht von Bedeutung, denn sein Gedanke einer Bewegung entsprang der Ablehnung, der Ungeduld gegenüber der Konvention, der Traurigkeit über das Stadtleben, einem Empfinden der Isolierung von der eigentlichen sozialen und künstlerischen Entwicklung seiner Zeit, der Mechanisierung des Lebens seiner Umgebung und einem Verlangen Verbindung mit einer lebendigeren individuelleren Macht zu bekommen, die er die „Freiheit der Seele” und die die Produzenten des Free Cinema „den Glauben an die Freiheit, an die Bedeutung des Menschen und an die Wichtigkeit des Alltags" nennen. Grundlage dieser drei Filme sind gleicherweise Aspiration und Unzufriedenheit.

Wenn man Lorenza Mazettis Geschichte von zwei Taubstummen („Together"), eingeschlossen in die Stille, Einsamkeit und Mißverständnisse in den trüben, fremdartigen Straßen und Räumen von Londons East End, betrachtet, dann erkennt man, daß die „Ausleuchtung des Alltags” nicht das Geheimnis des Glücks enthüllt. Wenn das Mitleid zum Ausdruck kommt, so handelt es sich um eine rigorose, schwerwiegende, rauhe Art von Mitleid: nicht für den Augenblick oder eine bestimmte Situation, sondern um eine Art von augenblicklichem Herzeleid des entsprechenden Temperaments, das die Welt und die Menschen umschließt, die in ihr verloren scheinen, so verloren, so hilflos, so gefesselt, wie die Taubstummen, die während ihres Morgenspazierganges über den zerbombten Platz von einer Bande von Kindern geneckt werden und während ihrer Mahlzeiten die Ungeduldige, agressive Bevormundung ihrer Wirtin zu ertragen haben.

Sie sind jung, der eine schlank, offen, freundlich, der andere etwas korpulent, ernster, in sich zurückgezogen und etwas älter. Dieser Spaziergang und die verfolgenden Kinder sind für den Ablauf ihrer Tage bezeichnend. Sie arbeiten in den Hafenanlagen; sie haben einen gemeinsamen Raum in einem Wohnhaus, die Wirtin ist agressiv und mißtrauisch, ihr Mann unbekümmert gutmütig; sie gehen in eine Kneipe, beobachten das Orchestrion und wie die Leute singen und tanzen zu der Musik, die sie nicht hören können; manchmal gibt es Verstimmungen zwischen ihnen — der eine möchte abends ausgehen, während der andere müde und gedrückt auf dem Bett lagert. Der Jüngere sieht auf einem
Vergnügungsplatz eine Tänzerin, trifft sie in einer Kneipe und träumt in der Nacht davon, sie zu lieben und geliebt zu werden. Als er morgens aufwacht, gießt sein Freund gerade Wasser aus einer Kanne in die Waschschüssel ... Als der Jüngere stirbt — er wird versehentlich von Kindern in den Fluß gestoßen, als er sich in das Wasser starrend über die Brücke beugt — wird dieses von niemand bemerkt. (Wird der andere jemals herausfinden, was geschehen ist?) Der Fluß fließt weiter, die Bagger arbeiten geräuschvoll, ein Boot fährt vorbei, es ist jemand gestorben — das ist auch ein Teil der Anonymität des Alltags ...

ln „Momma Don't Allow" („ . . . no Jazzband Playing Here", geht der Text weiter) ist allerdings eine Art von Glücklichsein enthalten. In den Wood Green Jazz Club — einen gemieteten Raum einer Londoner Kneipe — kommen die jungen Stenotypistinnen, Studenten, Metzgerlehrlinge, Zahnassistentinnen, Verkäuferinnen, um nach den Klängen der „Chris Barber Band" zu tanzen. Während sie ihre eigenen Bewegungen nach der Musik improvisieren, soeben versunken und langsam und im nächsten Augenblick schnell und ekstatisch‚ gleiten sie in eine andere Welt, eine Scheinwelt. Für einen Abend sind sie losgelöst. Aber das ist alles: die Rückkehr ist der Augenblick des Aufbruchs der obskure, unpersönliche Alltag, dessen wenige Lichtblicke in trauriger Bedeutungslosigkeit erscheinen. Möglicherweise ist das die Ursache ihrer Flucht ...

Ohne Zweifel ist das die Welt, in der wir leben. Wenn wir die Dinge von dieser Warte aus betrachten — die Unpersönlichkeit des Stadtlebens, die ziellosen einsamen Gestalten, die von der größeren Einsamkeit der Masse aufgesogen werden, die Vergnügungen, versteckt und mechanisch oder die eigene Einbildungskraft anregend — so wollen die Produzenten dieser Filme vor allem den Schock der Erkenntnis erreichen. Isolierung des Individuums, Isolierung der Menge, Isolierung in der Flucht — das ist es, was wir hinter dem Free Cinema Programm vermuten, das ist es, warum die Filme einander so stark ergänzen. „Dieses ist das Leben", die Produzenten zitieren Dylan Thomas. „Verliert nicht" die Geduld..."

An Stelle von ‚O Dreamland’ zeigen wir als dritten Experimentalfilm aus dem Free Cinema-Programm des British Film lnstitute „Nice Time", eine kritische Studie über die gegenwärtige industrialisierte Kultur, wie sie sich dem Auge der Kamera im Umkreis von 400 yards um die Eros-Statue auf dem Picadilly Circus bietet: schweigsame Kinoschlangen; Plakate, die den Kriegsruhm und die sensationelle Entwicklung der Wissenschaft preisen. Einsame Gesichter, suchende Blicke, das Gedränge von Amateur- und Berufstalenten. Über allem steht das ironische Symbol des Eros: des Gottes der Liebe, der den Platz beherrscht.

„Glänzende, aufrichtige Kameraarbeit, glänzend im Ton, rascher Schnitt..." (Time and Tide)

Mittwoch, 18.1.1961 20:30  ! Köhlersaal