Mutter Krausens Fahrt ins Glück

Mittwoch, 17.5.1961 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Mutter Krausens Fahrt ins Glück

Programmheft SoSe 1961:

Dieser Film wurde nach Aufzeichnungen inszeniert, die Heinrich Zille kurz vor seinem Tode geschrieben hatte. Zilles künstlerische Vorstellungskraft hatte sich auch diesmal wieder den Berliner Elendsvierteln und seinem menschlichen Treibgut zugewandt; dennoch unterschied sich der Film beträchtlich von den „Zille-Filmen” der Jahre 1925 und 1926. In ihnen bildete ein aus Kulissenbauten bestehendes proletarisches Milieu den Schauplatz von Vorgängen, wie sie den Wunschträumen und Illusionen des Kleinbürgertums entgegenkamen; in diesem neuen und letzten, echten Zille-Film verdunkelten keine solchen Trugbilder mehr die wahre Gestalt des Milieus, wie es mit Hilfe zahlreicher Außenaufnahmen aus dem Norden Berlins überzeugend und lebensvoll dargestellt war.

Dieses Milieu war durch seine damals schandbaren Wohnbedingungen gekennzeichnet. Mutter Krause haust mit ihren zwei erwachsenen Kindern Paul und Erna in einem einzigen Zimmer; da sie mit dem Straßenverkauf von Zeitungen nicht genug verdient, hat sie dieses Zimmer an einen fragwürdigen Untermieter abgetreten und sich selbst mit Sohn und Tochter in der Küche eingerichtet. Der Untermieter seinerseits beherbergt eine Prostituierte und ihr Kind bei sich. Durch das unvermeidliche enge, tägliche Zusammenleben mit ihm sind Mutter Krausens Kinder seinem schlechten Einfluß ausgesetzt. Er verführt Erna und verleitet Paul zum Einbruch. Mutter Krausens Welt stürzt ein, als sie sieht, daß der Sohn als Verbrecher von der Polizei abgeführt wird. Sie öffnet den Gashahn, holt das Kind der Prostituierten und tritt mit ihm zusammen ihre letzte und einzige Fahrt ins Glück an.

(Nach S. Kracauer)

Dem echten Anliegen eines Heinrich Zille und der vorzüglichen Beherrschung filmkünstlerischer Mittel steht ein gewisser Hang zum „Dekorativ-Sozialen" gegenüber, der auch den ernstzunehmenden Filmen dieses neuen Realismus eigen ist. Lotte Eisner spricht von der Vorliebe der Deutschen, soziale Sujets zu stilisieren: „MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK zeigt besonders deutlich den Einfluß, den Ruttmanns Berlin-Film auf alle Sozialfilme dieser Epoche ausgeübt hat. Viele rein dokumentarische Aufnahmen werden eingeschnitten. Jutzi bringt auch Aufnahmen der Asphaltarbeiter, die wir aus dem Ruttmannfilm kennen. Die Kamera durchforscht die, Gesichter von Leuten auf der Straße, fixiert Alltagsbegebenheiten in all ihrer Unmittelbarkeit. Doch gerade darum spüren wir die Unzulänglichkeit solcher ‚sozialen Spielfilme’ noch stärker — die dokumentarisch sachlichen wie auch die dokumentarisch impressionistischen Passagen lassen die übliche, aus dem Sittenfilm-Genre herübergenommene Melodramatik noch peinlicher zutage treten."

Die Problematik des Geschehens kann heute nicht mehr aktuell erscheinen, den sozialen Lösungen wird man mit Skepsis begegnen — und dennoch sieht man den Film nicht wie ein historisches Dokument, sondern erlebt ihn frisch und unmittelbar. Das ist das Verdienst der Gestaltung. Der Film beginnt zunächst mit einigen fotographischen Formspielereien im Stil von Ruttmanns BERLIN, dann aber werden die Bewegungen der Kamera sachlich und berichtend und bleiben immer auf das Objekt bezogen. Es scheint ihr einziges Bestreben zu sein, sich selbst zu verleugnen, um dem Zuschauer die völlige Wirklichkeitsillusion zu vermitteln. Dazu tragen auch die Auswahl der Darsteller‚ deren Gesichter nie schön, aber immer charakterisitisch sind, und ihr frisches und ungekünsteltes Spiel bei, das nur dort forciert wird, wo Gestik und Mimik die Wortaussage ersetzen müssen.

(filmforum)