Nazarín

Mittwoch, 15.12.1965 21:00  ! Köhlersaal
21:00 Nazarín

Programmheft WS 1965/1966:

Nazarin ist ein Priester, der am Ende des 19. Jahrhunderts in Madrid nach der Lehre Christi lebt: Barmherzigkeit, Liebe, Verzeihen und Entsagung übt. Andara, eine verwundete Prostituierte, besteht darauf, ihm zu folgen und bald auch Beatriz, die hysterische Schönheit, die er lehrt, ihre Krisen zu zügeln. Die drei führen ein erbauliches Leben, mit fast leerem Magen, aber das Herz strömt über vor Eifer.
Er lehrt die Frauen die Eitelkeit der Leidenschaften und die einzige Lösung: durch die Liebe zu allen zur Liebe Gottes zu gelangen. Bald schon ausgeplündert, mißhandelt und verraten (aber der göttlichen Gnade teilhaftig), werden sie von der »Guardia Civil« (Polizei) mit anderen Gefangenen nach der Hauptstadt abgeführt. Von hier an besteht eine enge Analogie zum Leidensweg Christi: Geißelung des Priesters, Verzeihen für den Vatermörder, der ihn schlägt, fast spontane Bekehrung des »guten« Schächers, dem ehemaligen Kirchenschänder. Die Gefängnisse sind die Stationen des Kreuzwegs.

In Nazarin erzählt Bufluel in einem Stil, der fern ist von jeder Herablassung und der jede verdächtige »Poesie« ablehnt, die Geschichte eines Priesters von der Art eines Don Quichotte, dessen Auffassung von Christentum ihn in Opposition zur Kirche, zur Gesellschaft und zur Polizei bringt. Nazario steht wie die meisten von Pérez Galdós Helden in der großen Tradition der »verrückten« Spanier (Bei Cervantes zum erstenmal auftretend). Seine »Verrücktheit« besteht darin, erhabene Ideen und große Worte ernst zu nehmen und ihnen gemäß leben zu wollen. Denn verrückt ist derjenige, der sich weigert einzusehen, daß es die Wirklichkeit gibt, nicht aber jene gräßliche Karikatur der Wirklichkeit. Don Ouichotte sah in einer Bauerntochter Dulcinea; Nazario sieht das hilflose Inbild des »gefallenen Volkes« hinter den monströsen Zügen von Andara und Ujo; hinter der Liebesraserei von Beatriz sieht er den Widerschein von Gottes Liebe.

Den ganzen Film hindurch — der geladen ist mit Szenen des geballten Zorns und der insofern das Zeichen Bunuels (in seiner Qualität und seiner Schrecklichkeit) trägt — folgen wir dem »verrückten« bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit, richtiger: auf dem Wege seiner Qual. Jeder, dem er sich nähert, zieht sich zurück; die Reichen und Zufriedenen, weil sie in ihm ein gefährliches asoziales Element sehen; die anderen, die Opfer und Verfolgten, weil sie eine andere, eine wirksamere Art von Trost brauchen. Sogar die Gefühle der Frauen, die ihm folgen, sind letztlich zweideutig. Im Gefängnis, zwischen Verbrechern und Mördern, kommt die letzte Enthüllung: das »Gutsein« des Nazareners trägt in dieser Welt, in der nur die effektive Leistung zählt, keine Früchte.