Kurzfilmtournee 2023

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Wir holen euch wieder die Siegerfilme und auch einige nominierte Filme des Deutschen Kurzfilmpreises 2023 auf die Leinwand. Dabei sind dieses Jahr Filme der HFF München, der Kunsthochschule für Medien in Köln, der Filmakademie Baden-Württemberg u. a.

Die Themen drehen sich unter anderem um Sehnsucht, Zugehörigkeit und Selbstschutz, Flucht, Verlust, Trauma und Selbstermächtigung.

Die Filme im Einzelnen:

Xanh“, 12 Min., Animation, Thi Dang An Tran, Filmakademie Baden-Württemberg

Alex in den Feldern“, 19 Min., Spielfilm, Marie Zrenner, HFF München

Ich darf sie immer alles fragen“, 15 Min., Dokumentation, Silke Schönfeld, Rijksakademie van beeldende kunsten Amsterdam

Into the violet belly“, 19 Min., Experimentalfilm, Thuy-Han Nguyen-Chi, Herstellung: Thuy-Han Nguyen-Chi mit Pam van Delyra

Sensitive Content“, 8 Min, Dokumentation, Narges Kalhor, Oasysdigital GmbH

I see them bloom“, 27 Min., Spielfilm, Mykyta Gibalenko, HFF München

The Red Sea makes me wanna cry“, 21 Min., Spielfilm, Faris Alrjoob, Kunsthochschule für Medien Köln

Dauer: 120 Minuten

 

Mittwoch, 17.4.2024 20:30 Programmkino Rex
Xanh

In der Küche eines asiatischen Schnellimbisses berichtet ein Vater während des Gemüseschneidens von einer rassistischen Beleidigung, worauf seine Tochter nachfragt, warum er, der bereits seit 40 Jahren in Deutschland lebt, sich nicht gewehrt habe. Es folgt die Schilderung seiner Flucht als einer der vietnamesischen Boatpeople, einer Odyssee, begleitet von Zurückweisung, Gewalterfahrung, Piratenüberfällen und Unwetter, aber auch von Momenten des Glücks beim Musizieren auf dem Boot oder der Arbeit in einer Flüchtlingsunterkunft. Dann mit leeren Händen in Deutschland anzukommen und sich trotz größter Schwierigkeiten zu behaupten – dagegen relativiert sich jede noch so beleidigende Aussage. Der Animationsfilmerin Thi Dang An Tran gelingt eine so einfache wie effektive Umsetzung: Das Kücheninterieur wird geflutet und verwandelt sich in eine Bühne der Erinnerung. Wie in einem Pop-up Bilderbuch staffeln sich Wellen und Boot, Bäume wachsen zu Dschungellandschaften, die Zeichnungen sind von ornamentaler Schönheit mit asiatischer Stilistik. XANH bedeutet im Vietnamesischen sowohl Grün als auch Blau. Diese Ambivalenz beschreibt die Situation vieler ehemals Geflüchteter und findet so zu einem gelungenen Abschlussbild: Der Vater steht inmitten einer Take-Away China-Box, den deutschen Spruch auf den Lippen: Das schaffen wir schon!

Jurybegründung BKM-PM
Alex in den Feldern

Der Film steigt mitten rein ins Leben auf dem Bauernhof. Beim Ausmisten des Stalls wird die gewünschte Zigarettenpause nicht gewährt. Als endlich Zeit für’s Rauchen ist, stößt mit einer Bekanntschaft vom Vortag ein neuer Mensch zu der streng geregelten Gemeinschaft auf dem Therapiehof. Die Anziehung zwischen Adrian und Alex ist ebenso zu spüren wie ihr Gefühl von Einsamkeit und die Suche nach Orientierung und Geborgenheit. Regisseurin Marie Zrenner erzählt uns bruchstückhaft und rau eine Geschichte über Sehnsucht, Zugehörigkeit und Selbstschutz. Dabei ist die Handkamera immer nah an den beiden Protagonisten. Mit dem zurückgenommenen Spiel der Hauptdarsteller, den sehr authentischen Dialogen und einem Gedicht, das über allem schwebt, erzählt uns Alex in den Feldern eine berührende Geschichte voller Poesie, die uns angenehm viel Raum für eigene Betrachtungen und Interpretationen lässt.

Jurybegründung BKM-PM
Ich darf sie immer alles fragen

„Du darfst mich immer alles fragen“, hat die Mutter der Tochter, der Filmemacherin Silke Schönfeld, gesagt. Und das macht Silke und besucht die Mutter im Garten; gerade, als der Kirschbaum gefällt wird, den der Vater und Opa vor 50 Jahren gepflanzt haben. Am Ende des Nachmittags ist vieles nicht ausgesprochen und doch vernommen. Der Baum liegt am Boden.

In Bildern, die sich zwischen dem konkreten Tun und dem imaginären Raum für das Gestern verorten, treffen sich die beiden Frauen. Die Aussparung im Bild schenkt dem Nicht-Gesagten der Mutter und den Vermutungen und Gedanken der Tochter den Platz, den es braucht, um zu atmen. Die sensible Montage eröffnet den Raum für uns Zuschauende, um die eigenen Vermutungen, Gedanken, Gefühle schweifen zu lassen. ICH DARF SIE IMMER ALLES FRAGEN ist ein berührender Film, in dem die Dimension der Selbstermächtigung in allem Trauma seinen Platz findet. Schönfeld lässt uns spüren, wie wenig es auf Fragen Antworten geben mag und doch, wenn auch anders als erwartet, Antworten im Raum schweben. „Ja“, sagt die Mutter, damals haben sie mir gegen meinen Willen die Haare geschnitten, damit ich ordentlich zur Einschulung aussehe.“ Heute lässt sie den Baum fällen.

Jurybegründung BKM-PM
Into The Violet Belly Trailer

Ausgehend von einem intimen Gespräch zwischen der Künstlerin Thuy-Han Nguyen-Chi und ihrer Mutter über Verlust, Trauma und die vietnamesische Diaspora entfaltet sich der Film „INTO THE VIOLET BELLY“. Während ihrer Flucht über das Meer sieht ihre Mutter – eine Nichtschwimmerin – sich gezwungen in die Tiefen des Ozeans zu springen. Dieser Sprung wird zum zentralen Reflexionspunkt des Films; er markiert zugleich einen Akt der Verzweiflung und einen radikalen Neubeginn. Als das Wasser sie umschließt wie einen Fötus im Mutterleib, bereitet sie sich darauf vor, zu ihren Ahnen heimzukehren. Jahrzehnte später hält sie in einem Berliner Filmstudio ein Huhn eng umschlungen im Arm und fragt es: „Kennen wir uns aus einem früheren Leben?” Auf behutsame Weise nähert sich die Filmemacherin den traumatischen Fluchterfahrungen ihrer Mutter an. Ein vielschichtiges, digital-poetisches Werk breitet sich wie ein Organismus aus, indem Migration, Mythologie und spekulativer Futurismus spielerisch zueinander finden.

Jurybegründung BKM-PM
Sensitive Content Trailer

Vor über einem Jahr löst der gewaltsame Tod der Kurdin Jina Amini durch die Sittenpolizei die größte Widerstandsbewegung seit Gründung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979 aus. Das autoritäre Regime versucht seither, jegliche Berichterstattung über die Demonstrationen und deren gewaltsame Niederschlagung zu unterbinden. Sehenden Auges stößt Narges Kalhor’s mit „SENSITIVE CONTENT“ in jenes Vakuum vor. Der Found-Footage-Film vereint Handyvideos, die sich über die sozialen Medien verbreitet haben und einen Akt der Solidarität belegen: Zwischen den Opfern der Staatsgewalt, den Produzent*innen der Handyvideos und der Filmemacherin. Narges gelingt eine profunde Ökonomie der Bilder, die zwischen Auslassung und Darstellung von Gewalt changiert. Dabei entsteht ein aufwühlendes, jedoch nicht voyeuristisches Zeugnis der Gegenöffentlichkeit, das Raum zur Reflektion bietet und zugleich nicht in der Distanz verharrt.

Jurybegründung BKM-PM
I See Them Bloom

Eine nächtliche Autofahrt, eine Bilder-Collage, Ankunft in München. I see them bloom beginnt unauffällig, bis plötzlich die Verabschiedung „Slava Ukraini“ einen neuen Kontext eröffnet. Nastya und Eugenia flüchten aus der Ukraine und landen in einem Umfeld, das sich kaum noch um den Krieg schert, sondern sich lediglich um ihre eigene heile Welt kümmert. Die beiden sind zwar dem Tod und der Zerstörung entkommen, doch mit der unangenehm übertriebenen Freundlichkeit ihrer neuen MitbewohnerInnen eröffnet sich ein neuer Horror für die jungen Frauen: die Ignoranz einer Gesellschaft, die sich ihrer Privilegien nicht bewusst ist. Die Ausgangslage der beiden Protagonistinnen wird klug, feinfühlig und ohne eine prätentiöse Überdramatisierung in Szene gesetzt. Die Schauspielerinnen verleihen ihren Figuren die nötige Dringlichkeit, ohne dabei das authentische Spiel zu verlassen. Die gewählte Erzählperspektive macht I see them bloom zu einem bereichernden Kurzfilm, der auf das schauspielerische Können seiner Protagonistinnen vertraut, die von der Kamera nah, aber unaufdringlich begleitet werden.

Jurybegründung BKM-PM
The Red Sea Makes Me Wanna Cry

Eine Odyssee von Liebe und Tod. Eine Geschichte über das Geschichtenerzählen, über Sehnsucht, gefangen in Raum und Zeit. Wir folgen Ida auf den Spuren ihres bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommenen Partners Ismail. Eine Reise nach Jordanien, in eine Stadt am Roten Meer, die dem Untergang geweiht scheint. Eine Reise in ein anderes Leben, zu den Fakten und Gedächtnisspuren eines geliebten Menschen. Auf dem Weg liegt eine schmerzhaft verdrängte Wahrheit. Es gibt Geschichten, die man nur in der Schachtelung mehrerer Erzählungen freilegen kann. The Red Sea Makes Me Wanna Cry ist ein solcher Film. Ebenso archaisch wie behutsam erzählt Regisseur Faris Alrjoob von Trauer und Erinnerung. Selten gelingt das Kunststück, dass ein Kurzspielfilm alle Gewerke zum Schwingen bringt. Die poetischen Bilder des Filmes auf Zelluloid, das kluge Zusammenspiel von Sounddesign und Musik und das wunderbar feinsinnige Spiel von Clara Schwinning entwickeln einen magischen Sog, wie wir ihn nur im Kino erleben dürfen.

Jurybegründung BKM-PM